K. Kuhn u.a. (Hrsg.): Der vergessene Krieg

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Titel
Der vergessene Krieg. Spuren und Traditionen zur Schweiz im Ersten Weltkrieg


Herausgeber
Kuhn, Konrad J.; Béatrice, Ziegler
Erschienen
Baden 2014: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
334 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Markus Furrer, Pädagogische Hochschule Zentralschweiz

Der Herausgeber und die Herausgeberin des Buches, Konrad J. Kuhn und Béatrice Ziegler, thematisieren in ihrem Sammelwerk den Ersten Weltkrieg als einen in der Schweiz vergessen gegangenen Krieg. Damit nimmt dieses Buch eine geschichtskulturelle Perspektive auf, die bis anhin, wie die Herausgeberin und der Herausgeber zu Recht betonen, noch nicht verfolgt worden ist. Nach 1945 wurde der Erste Weltkrieg im kommunikativen Gedächtnis wie auch in der offiziellen Geschichtspolitik vom Zweiten überlagert und verdrängt. Auch in Geschichtswissenschaft und -didaktik blieb die «Urkatastrophe» des 20. Jahrhunderts weitgehend ausgeblendet.

Vorangestellt im einleitenden Teil wird ein Phasenmodell zu den Konjunkturen der Thematisierung und Funktionalisierung des «Erinnerns» an den Ersten Weltkrieg: Direkt nach dem Krieg bis zu den beginnenden 1930er-Jahren lässt sich von einer Periode der «relativen Offenheit» sprechen. Die aus den 1920er-Jahren stammenden Narrative sind denn auch von grosser Dominanz. Daran fügen sich die Jahre der Geistigen Landesverteidigung (1933 bis gegen die 1960er-Jahre). Ausmachen lassen sich hier eine Verengung und politische Indienstnahme von Erinnerung und Erzählung. Ferner werden die Erzählungen vom Zweiten Weltkrieg überlagert. Seit den 1970er-Jahren erhöht sich die Komplexität der Aussagen über den Ersten Weltkrieg. Die in der vorherigen Phase geschaffenen patriotischen Diskurse bleiben aber weiterhin anschlussfähig, auch wenn sie nicht mehr von der Bevölkerung im selben Ausmass wie vorher geteilt werden. Für die Gegenwart machen die Herausgeber eine vierte Phase aus und sie verweisen auf die politische Dringlichkeit für die Schweiz, einen Platz im transnationalen Diskurs des Ersten Weltkrieges zu finden. Die Beiträge des Bandes sind im Rahmen von vier Funktionsweisen von Geschichtskultur zugeteilt: einmal mit Fokus auf die unterschiedlichen Manifestationen, an denen sich Erinnerungselemente festmachen lassen; weiter in Bezug auf das Spannungsverhältnis zwischen Erinnerungsprozessen und kollektivem Gedenken; präsentiert werden ferner Beispiele von geschichtskulturellen Verwendungen und abschliessend befassen sich Beiträge mit der Wissenschaft als Teil der Geschichtskultur.

Giuliano Bruhin («Sende dir hier ein Lebenszeichen». Schweizer Bildpostkarten im Ersten Weltkrieg) befasst sich in seinem Beitrag mit dem Medium der Bildpostkarten im Ersten Weltkrieg als Abbild ihrer Zeit, Sichtweise der Nation und Spiegel der Gesellschaft. Anhand der Karten lassen sich auch die inneren Spannungen zwischen den Landesteilen der Schweiz gut nachvollziehen. Westschweizer Postkarten, die ein Deutschschweizer Fehlverhalten anprangerten, wurden denn auch von der Zensur erfasst und sie gelangten nach der Beschlagnahmung durch die Postbehörden ins Historische Archiv der PTT.

Karoline Oehme-Jüngling (Die Konstruktion nationaler Erinnerung. Die Schweiz in Hanns in der Gands Soldatenliedersammlung) untersucht am Beispiel von Soldatenliedern das Bild der Schweiz. Eine zentrale Rolle nimmt dabei der Sänger populärer Lieder aus der Zeit der beiden Kriege, Hanns in der Gand, ein. Dessen Sicht auf die Schweiz ist durch Ambivalenzen geprägt. Einmal veranschaulicht er, welches transkulturelle Erbe im Liedgut auszumachen ist, weiter aber ist er selber an der Konstruktion eines Schweizbildes beteiligt (Gilberte de Courgenay) und er appelliert vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges an die Bedeutung dieses Liedguts als nationales Erbe.

Auf der Suche nach Bildquellen zum Ersten Weltkrieg stösst Anna Lehninger (Bilder vom Krieg? Der «Pestalozzi-Schüler-Kalender» und der «Zeichenwettbewerb nach Natur» als Bildquelle zum Ersten Weltkrieg) auf den Pestalozzi-Schüler-Kalender und den in den Jahren von 1912 bis 1984 veranstalteten Zeichenwettbewerb. Im Schülerkalender wurden in Kriegszeiten im Gegensatz zu den kriegsführenden Nachbarländern, in denen die «Erziehung zum Krieg» in der Kinderliteratur oft Leitideologie war, primär die Hilfsbereitschaft und die vorbildliche Rolle der Schweiz als Flüchtlingsziel und Helferland betont.

Zu ähnlichen Erkenntnissen gelangt Pirmin Meier (Eine unheroische Zeit. Der Erste Weltkrieg in Heften des Schweizer Jugendschriftenwerks – SJW) in seiner Untersuchung des SJW-Schriftenwerks. Wenn man sich auf den Ersten Weltkrieg bezog, dann stand nebst der Grenzbesetzung das humanitäre Engagement der Schweiz im Vordergrund. Schlachten und Heldengeschichten fanden hingegen vorzugsweise in der älteren Geschichte der Eidgenossenschaft statt.

Christian Koller (Authentizität und Geschichtskultur. Soldatische Selbstzeugnisse der «Grenzbesetzung 1914/18» als polyvalente Erinnerungsträger) zeigt, wie im Gegensatz zum europäischen Umfeld mit einer breiten Memoirenliteratur in der Schweiz das Interesse an Selbstzeugnissen eher abnahm. Dazu kam, dass auch die Geschichtswissenschaft an einer Sicht auf den Weltkrieg «von unten» nicht interessiert war. Entsprechend verpasste man Oral-History-Studien zum Aktivdienst des Ersten Weltkrieges. Aufgewertet zu einem Erinnerungsort wurde die «Grenzbesetzung 1914/18» ersten im Soge der Geisti-gen Landesverteidigung.

Einen weiteren interessanten Quellen-fundus bearbeitet Dominik Sauerländer (Das visuelle Gedächtnis. Erinnerungsfotos von der Grenzbesetzung). Wie Vergleiche mit kriegsführenden Ländern zeigen, ergeben sich durchaus Parallelen aber auch Differenzen in den Sujets. Herausfordernd war die Darstellung einer Armee ohne Kampfeinsatz und erst recht galt es, die Ernsthaftigkeit des Dienstes zu betonen. Soldaten der anderen Seite beim Grenzdienst – Deutsche und Franzosen – werden im Bildprogramm als Kameraden und nicht als Gegner dargestellt.

Elisabeth Joris (Umdeutung und Ausblendung. Entpolitisierung des Engagements von Frauen im Ersten Weltkrieg in Erinnerungsschriften) zeigt auf, wie sich in den Erinnerungen das Pathos von Verlautbarungen der Behörden und der Frauenbewegung vom Sommer 1914 spiegeln. Die Figur der Stauffacherin wurde in der deutschsprachigen Schweiz zu einer identitären Klammer für die bürgerliche Frauenbewegung, gegen die sich die neue Frauenbewegung der 1970er Jahre absetzte. Diese prangerte die Anpassungspolitik und den kultivierten Diskurs von Partnerschaft an; statt auf die Korrelation von Rechten und Pflichten beriefen sich die Feministinnen auf linke und pazifistische Aktivistinnen des Ersten Weltkriegs.

Der Erste Weltkrieg fand und findet im schweizerischen öffentlichen Gedenken kaum statt. Zu diesem Befund gelangt David Tréfás bei seiner Analyse des Gedenkens in Schweizer Leitmedien (Verdrängtes Gedenken. Der Erste Weltkrieg in Schweizer Tageszeitungen). Überlagert wurde das Erinnern an das Kriegsende durch den Landesstreik, der einen tiefgreifenden Bruch in der Geschichte des schweizerischen Bundesstaats darstellt.

Während Festungsbauten des Zweiten Weltkriegs (Réduit) in der Erinnerung einen festen Platz einnehmen, so trifft dies auf Verteidigungsanlagen aus dem Ersten Weltkrieg nicht zu, wie Juri Jaqument und Adrian Wettstein («Hier fällt die Schweiz einst oder siegt». Militärische Gedenklandschaften des Ersten Weltkriegs in der Schweiz) in ihrem Beitrag an den Beispielen der Fortifikationen Murten, Hauenstein sowie dem Stellungssystem Stilfserjoch-Umbrail nachweislich zeigen.

Jan Hodel (Digitaler Seismograf kollek-tiven Gedenkens? Die Schweiz, der Erste Weltkrieg und das Internet) kommt auch mit der Analyse des Internets zum Schluss, dass der Erste Weltkrieg als geschichtliches Ereignis in seiner Bedeutsamkeit für die Gegenwart in der Schweizer Öffentlichkeit kaum diskutiert wird.

Andreas Kley (Magistrale Demonstration der nationalen Einigkeit. Politische Reden während des Ersten Weltkriegs) sucht geschichtskulturelle Spuren aus Reden des Ersten Weltkriegs und folgert, dass dieser die politischen Reden hinsichtlich des Missionsgedenkens und der Neutralität dauerhaft geprägt hat.

«Entbehrungen brauchen Sinnstiftung», wie Konrad J. Kuhn (Politik in Bronze und Stein. Denkmäler für die «Gefallenen» des Ersten Weltkriegs) formuliert und am Schweizer Beispiel zeigt, dass auch hierzulande Denkmäler für den nationalen Totenkult errichtet worden sind. Den Fokus in seinem Beitrag legt er auf das 1922 eingeweihte Wehrmännerdenkmal auf der Forch, in der Nähe der Stadt Zürich. An diesem Beispiel lässt sich anschaulich zeigen, wie Schweizer Bürgertum und Militär das Gedenken an den Sieg über die streikenden Arbeiter erfolgreich mit dem Ersten Weltkrieg amalgamierten und den Klassenkampf von oben zur patriotischen Pflicht erhoben.

Peter Neumann befasst sich mit «Füsilier Wipf» und damit mit dem erfolgreichsten Schweizer Film (Im patriotischen Dienst. «Füsilier Wipf» als Film der Geistigen Landesverteidigung), der geschichtskulturell rein funktional den Ersten Weltkrieg thematisierte und diesen auf die Bedrohungslage Ende der 1930er Jahre zuschnitt. Der Erste Weltkrieg wurde so zur erfolgreich bestandenen Prüfung, in der die Schweiz ihre Unabhängigkeit und ihre kulturelle Eigenständigkeit durch ein armeeverbundenes und bodenständiges Schweizertum zu bewahren wusste.

An einem anderen Filmklassiker, Gilberte de Courgenay, analysiert Béatrice Ziegler (Hierarchisierungen in der Grenzbesetzung. Zivilgesellschaft und Armee im Film «Gilberte de Courgenay») die Orientierungsparameter, welche sich in den Hierarchien Armee und Zivilgesellschaft, Offiziere und Soldaten, Frauen- und Männergesellschaft widerspiegelten und sich in der Person Gilberte de Courgenays, die die dienende Zivilgesellschaft verkörperte, fokussierten.

Der General des Ersten Weltkriegs, Ulrich Wille, ist im Gegensatz zu General Guisan aus dem Zweiten Weltkrieg nur noch schwach in der kollektiven Erinnerung verankert. Umso erstaunlicher ist es daher, dass der Publizist und Historiker, Niklaus Meienberg, 1987 mit seiner achtteiligen Folge in der «Weltwoche» über General Wille und dessen Familie eine erhitzte Debatte anstiess. Rudolf Jaun (General Wille unter Shitstorm. Niklaus Meienergs «Wille und Wahn» in der Medien- und Fachöffentlichkeit der 1980er-Jahre) ergründet in seinem Beitrag, warum und wie Meienberg mit seinem Wille-Buch den Zeitgeist der 1980er-Jahre voll getroffen hat.

Michel Schultheiss und Julia Thyroff («Friedensinsel» in der «Einigkeitsprobe». Eine Untersuchung von aktuellen Geschichtslehrmitteln zur Schweiz im Ersten Weltkrieg) zeigen anhand aktueller Lehrmittel der deutschsprachigen Schweiz, wie das Land im Ersten Weltkrieg dargestellt wird. Auch hier werden insbesondere Assoziationen einer Bewährungszeit geweckt. Carol Nater Cartier befasst sich in ihrem Beitrag (Vom Schulbuch an der Wand zum emotionalen Erlebnis. Der Erste Weltkrieg in den historischen Museen der Schweiz) mit einem weiteren Aspekt der Vermittlung. Dabei wirft die Museumspädagogin die Frage auf, ob Ausstellungen das geeignete Medium sind, um dem schwierigen Thema Krieg zu begegnen.

Mit dem Band zeigen die Autorinnen und Autoren anschaulich und detailreich auf, wie in der Schweiz an den Ersten Weltkrieg erinnert worden ist. Im schweizerischen öffentlichen Bewusstsein schien und scheint die Urkatastrophe nur einen marginalen Platz einzunehmen. Die Abwesenheit des Krieges ist jedoch auch eine Form von Erinnerung und sie impliziert die fundamentale Brucherfahrung des Kleinstaates und seiner Gesellschaft am Anfang des 20. Jahrhunderts mit Wirkung bis zur Gegenwart. Dank den vielfältigen Recherchen und Beiträgen im vorliegenden Band wissen wir nun auch mehr darüber, wie im schweizerischen Kollektiv dieser Prozess verlaufen ist.

Zitierweise:
Markus Furrer: Rezension zu v, Baden, hier+jetzt, 2014. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions und Kulturgeschichte, Vol. 108, 2014, S. 565-568.

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